Verstoßen, Ausgerottet und Vergessen: Ein Einblick in die Rohingya Krise
15 November 2017
Cox’s Bazar, Bangladesch
Das Volk der Rohingya ist eine ethnische Minderheit, die seit Generationen in Burma* (Rakhine State) lebt. In Burma gibt es 135 verschiedene ethnisch anerkannte Volksgruppen, jedoch wurden die Rohingya nie als solche anerkannt und sie besitzen somit keine Nationalität. 1948 startete das burmesische Militär eine erste massive Militäroperation mit dem Ziel der Hinrichtung zahlreicher Rohingyas und der Zerstörung von Siedlungsgebieten. Seither wurde immer wieder von entsetzlichen Angriffen berichtet, die jedoch vom Militär abgestritten wurden. Seit dem 25. August mussten in weniger als zwei Monaten über 500.000 Rohingyas, das entspricht etwa der Bevölkerung von ganz Südtirol, aus ihren Heimatdörfern in das benachbarte Bangladesch flüchten. Zahlreiche Männer, Frauen und Kinder starben noch vor dem Fluchtversuch, andere starben während der tagelangen Wanderung durch den feindseligen Dschungel. Manche konnten den Fluss (Naf River) nicht überqueren, da eine der unzähligen Landminen entlang des Ufers sie lebensgefährlich verletzte, andere kenterten bei dessen Überquerung und ertranken. Und viele, die all diesen Gefahren getrotzt und es nach Bangladesch geschafft hatten, starben dort an Krankheiten, Unterernährung oder Dehydration.
Noch immer befinden sich rund eine halbe Million Rohingyas in Burma, nicht wissend, ob das nächste Dorf, welches das burmesische Militär angreifen wird, ihr eigenes sein wird.
Die sechstägige Mission beginnt
„Wir haben eben entschieden, am Mittwoch, den 18. Oktober 2017, nach Bangladesch zu fliegen, um uns ein besseres Bild von der lokalen Flüchtlingssituation zu machen und um herauszufinden, ob und wie wir dem Rohingya Volk helfen können. Wir könnten noch eine helfende Hand gebrauchen. Na, wie wärs? Lust mitzukommen?“
Diese Einladung der Free Burma Ranger versetzte mich in große Aufregung. Ich arbeitete bereits seit längerem für diese Organisation, doch diese war meine erste Auslandsmission. Und so kam es, dass ich zwei Tage später im Flieger nach Cox’s Bazar (Bangladesch) saß, um unser Drei-Mann-Team zu vervollständigen.
Schon während des Fluges versuchte ich mich auf die schrecklichen Dinge vorzubereiten, die mich in den überfüllten Flüchtlingslagern erwarten würden. Doch auch die beste Vorbereitung konnte nicht einmal ansatzweise die Bilder widerspiegeln, die ich sodann vor Ort sah.
Am ersten Tag brechen wir zusammen mit einem Fahrer und zwei Übersetzern in Richtung Kutapalong, dem zurzeit größten Flüchtlingslager, auf. Dort angekommen beginnt es wie aus Eimern zu schütten. Unmengen an Menschen suchen Unterstand und stehen knietief im Schlamm. Doch die größere Gefahr, die diese Umwetter mit sich bringen, sind Erdrutsche. Da sich jeder selbst einen Unterschlupf bauen muss und viele der „Behausungen“ aus Dreck ausgegrabene Vertiefungen am Rande eines Hügels sind, deren Dach aus einer Plane und Bambusstöcken konstruiert wurde, kommt es immer wieder vor, dass eine Familie manchmal nicht nur das Dach über ihrem Kopf verliert, sondern noch viel mehr.
Zehn Minuten lang gehen wir durch das Lager über schlammige Hügel auf und ab – Planen, wo auch immer man hinsieht – bis wir am Zielort ankommen. Unsere Kontaktperson hat bereits mehrere Frauen und Männer versammelt, die bereit sind, ihr grauenhaftes Erlebtes mit uns zu teilen. So unterschiedlich manche Geschichten auch sind, zeigen sie doch alle den selben Ablauf. Die Leute wurden aus ihrem Heimatdorf vertrieben, zogen tagelang durch den Dschungel und bewältigten eine riskante Flussüberquerung, um in einem der ärmsten Länder der Welt mit nichts in ihren Händen anzukommen.
Das Volk der Rohingya hat in Burma keinerlei Rechte. Sie verfügen über keine Nationalität und haben somit keine Möglichkeit, sich an einem anderen Ort ein neues Leben aufzubauen. Diejenigen, die sicher in Bangladesch angekommen sind, kämpfen täglich aufgrund miserabler Wasserqualität, Krankheiten, Unterernährung und extremer Hitze ums Überleben. Als ob das nicht genug wäre, werden häufig Kleinkinder nachts aus ihren Behausungen gezerrt und auf dem Sexmarkt verkauft, Erwachsene umgebracht und ihre Organe ebenso verkauft und durch die enorme Ausbreitung der Lager sind nun auch wilde Elefantenherden eine Gefahr. Am Ende der Interviews spricht einer der Männer: „Danke! Keiner hat uns bisher gefragt, was mit uns passiert ist und was wir erlebt haben. Wir haben all diese Emotionen in uns und wissen nicht, wie wir sie verarbeiten sollen.“ Er wischt sich eine Träne aus seinem Gesicht und wir verlassen das Lager.
Die nächsten Tage vergehen wie im Flug. Zwischen zwei Essensausteilungen, einer Planenverteilung und langen Fahrten entlang des Grenzgebietes zu den Flüchtlingslagern, versuchen wir in der wenigen Zeit, die uns zur Verfügung steht, so viele Interviews wie möglich aufzuzeichnen, um das Leid dieser Menschen mit der ganzen Welt zu teilen.
Eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, erzählt uns von einem Vorfall in ihrem Dorf. Das burmesische Militär hatte einen Außenposten mit ungefähr 50 Soldaten in ihrem Dorf eingerichtet. Plötzlich warnte eine Augenzeugin das Dorf vor einer Armee, die geradewegs auf sie zumarschierte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als es den anderen Dorfbewohnern gleich zu tun, alles liegen und stehen zu lassen und in einer Scheune Zuflucht zu suchen. Leider war das Glück nicht auf ihrer Seite und am nächsten Tag wurde sie zusammen mit anderen Bewohnern von ungefähr 200 Soldaten umzingelt. Diese eröffneten das Feuer und Kugeln schossen durch die Holzwände. Als Ruhe einkehrte, begannen die Soldaten, sie in kleine Gruppen aus der Scheune zu ziehen und die Männer hinzurichten. Die Soldaten zogen weiter und nahmen einige junge Frauen mit sich. Sie war eine davon und wurde zurück in ihr Heimatdorf verschleppt, wo sie sich alleine in einem fremden Haus wiederfand. In der kommenden Nacht wurde sie von acht oder neun Soldaten gemeinsam vergewaltigt und konnte später zusammen mit anderen Vergewaltigungsopfern die Flucht ergreifen.
Eine andere Frau, im achten Monat hochschwanger, befand sich zusammen mit ihrer Familie und anderen Bewohnern auf der Flucht aus ihrem Dorf, als sie auf eine Gruppe junger Männer trafen. Diese trugen keine Uniformen und lockten sie zu einem Kanal, wo sie plötzlich begannen, um sich zu schießen. Ihr 19 jähriger Sohn ging zu Boden und sie hatte nicht genug Kraft, um ihn in Sicherheit zu bringen. Sie konnte ihm nicht helfen und musste zusehen, wie immer wieder auf ihn eingeschossen wurde. Vor drei Tagen hat sie ihr Baby bekommen. Doch auch wenn sie dieses Leben gerettet hat, wird sie der Verlust ihres Sohnes nie mehr loslassen.
Wie die Anzahl der Behausungen in einem Flüchtlingslager scheinen auch diese Erzählungen endlos. Jeder Einzelne, der es über die Grenze in eines der vielen Flüchtlingslager geschafft hat, trägt eine herzzerreißende Geschichte in sich, die danach schreit, verkündet zu werden.
Wir fahren entlang der Grenze zu einem kleinen Flüchtlingslager. Der Fahrer erzählt uns, wie er manchmal aufsteigenden Rauch von niederbrennenden Dörfern wenige Kilomenter hinter der Grenze wahrnehmen kann. Als wir näher zum Fluss ins „Niemandsland“ kommen, sehen wir drei große Gruppen von Flüchtlingen. „Sobald Neuankömmlinge ankommen, werden sie registriert und einem Lager zugeteilt.“ Hunderte befolgen die Befehle des bengalischen Militärs und reihen sich unter der Sonne auf, um so schnell wie möglich zu ihrem Zielort zu gelangen. Es kann dann Tage dauern, bis man sich etwas Nahrung, eine Plane und damit den ersten Schritt zum Überleben sichern kann.
Am letzten Tag besuchen wir ein Krankenhaus, in dem mehrere Rohingyas untergebracht sind. Auch dort interviewen wir einige Patienten. Einer davon ist Rubel, ein siebenjähriger Junge aus der Buthidaung Region in Burma.
Er lebte zusammen mit seinen zwei Schwestern und seiner Mutter in einem Dorf mit ungefähr 500 Häusern. Seinen Vater verlor er vor zwei Jahren, erschossen vom burmesischen Militär beim Fischen. Sein Dorf ist von einem Fluss umgeben, der einen Tag vor Eid al-Adha, einem muslimischen Feiertag, vom burmesischen Militär besetzt wurde. Ohne jegliche Vorwarnung marschierten über 500 Soldaten am 5. September ins Dorf ein und töteten mit Messern, Macheten und Schusswaffen alles, was ihnen unterkam, sie nahmen Wertgegenstände mit und setzten das gesamte Dorf in Flammen. Sobald Rubel erkannt hatte, was vor sich ging, lief er, so schnell er konnte, nach Hause und versteckte sich. Sein Herz begann zu rasen, als plötzlich ein Soldat das Haus betrat und ihn entdeckte. Als seine Mutter zu Hause ankam, fand sie ihren Sohn bewusstlos auf dem Boden liegend, umgeben von einer Blutlache. Ihm war ins Bein geschossen worden. Sie stoppte die Blutung mit einem Kleidungsstück, nahm Rubel in ihre Arme und begann zu laufen, nicht wissend, ob ihr Sohn noch am Leben ist. Drei Tage lang wanderten sie durch den Dschungel, als Rubel zum ersten Mal seine Augen öffnete und nach Wasser fragte. Sie schlossen sich dann einer größeren Gruppe von Flüchtlingen an und erreichten nach weiteren sieben Tagen die Grenze zu Bangladesch. Ich frage Rubel, ob er während dieser langen Zeit Nahrung zu sich genommen hat, und er antwortet: „Ich hatte solchen Hunger. Mein Bauch, es tat so weh! Nach fünf Tagen habe ich zum ersten Mal etwas bekommen, das meinen Magen für eine kurze Zeit beruhigte.“ Als sie die Grenze erreichten, bezahlten sie einen Mann, der sie sicher auf das andere Ufer brachte. Das bengalische Militär gab ihnen Essen und brachten Rubel, zusammen mit seiner Mutter in dieses Krankenhaus. Seine zwei Schwestern leben zusammen mit anderen Flüchtlingen aus ihrem Dorf im Balukhali Lager. Die Frage, ob er Albträume habe, die ihn an sein grauenhaftes Erlebtes erinnern, beantwortete er mit einem klaren Ja.
„Jede Nacht wacht er schreiend auf, von der Angst gequält, immer noch in Burma zu sein und dem Lauf einer Waffe entgegenzusehen. Ich muss ihn dann fest in meine Arme nehmen und ihn daran erinnern, dass das burmesische Militär ihm nun nichts mehr anhaben kann“, ergänzt seine Mutter.
So grauenhaft diese Erzählungen auch sind, wünscht sich der Großteil doch, in ein friedliches Burma zurückzukehren. In ihre Heimat, wo sie sich unter dem Schutz eigener Gesetzer ein neues Leben aufbauen können. Nur Kinder wie Rubel haben immer noch zu große Angst, um auch nur daran zu denken, an diesen schrecklichen Ort zurückzukehren.
Während diesen fünf Tagen habe ich unzählige Tränen gesehen. Tränen, die nach Hilfe schrien, Tränen der Trauer, Tränen der Ungewissheit, Tränen aus Schmerz, Tränen aus Sorge, Tränen aus Verzweiflung, … Und gerade diese Tränen gebe ich weiter, um Verständnis, Mitgefühl und Mitleid für eine vergessene ethnische Minderheit, die Rohingya, zu wecken.
*Burma ist der ursprüngliche Name des Landes. 1989 wurde das Land in Myanmar umbenannt, um die Unterdrückung von Seiten des Militärs zu verschleiern.